Auf der Suche nach den Puzzleteilen des Lebens

„STiDU  – die Stimme der Ungehörten – gibt es, weil Reinhold Fahlbusch dazu die Initiative ergriffen hat. Er hat den Handlungsbedarf für die Wohnungslosen in Hannover erkannt, und er hat gehandelt: indem er STiDU ins Leben gerufen und damit engagierte Menschen zusammengebracht hat. Wir sind glücklich, ihn an unserer Seite zu wissen.“

Der Vorstand von STiDU e.V.

Reinhold Fahlbusch war ein sozial engagierter Macher, dann verlor er durch eine Krankheit ganz plötzlich sein Gedächtnis. Stück für Stück rekonstruiert er jetzt seine Erinnerungen – und blickt optimistisch ins neue Jahr. (Quellenangabe: HAZ vom 31.12.2022, Seite 23 – Text von Simon Benne/Fotos von Katrin Kutter)

Der Tag, der sein Leben in ein Davor und ein Danach teilte, war der 20. November 2021. „Ich fühlte mich nicht wohl an jenem Sonnabend“, sagt Reinhold Fahlbusch. Er bat seine Frau noch, den Notarzt zu rufen. Bald darauf musste er in der gemeinsamen Altbauwohnung in der List reanimiert werden. So hat sie es ihm später berichtet. „An die nächsten Monate habe ich keine Erinnerung“, sagt der 76-Jährige. „Es war ein Zusammenbruch ohne Vorwarnung.“

Eher unbewusst nahm er wahr, dass seine Frau ihm während der langen Behandlung vertraute Musik vorspielte. Und wie ein Schlaglicht ist da die Erinnerung daran, dass jemand in einem Krankenwagen eine blaue Decke über ihn legte, eine blaue Decke mit weißen Streifen. Überhaupt ist die Beschäftigung mit der eigenen Erinnerung seither ein lebensbestimmendes Thema für Reinhold Fahlbusch. Denn die Krankheit, die ihn an jenem 20. November 2021 traf, nahm ihm einen großen Teil seines Gedächtnisses.

„Es war kein Schlaganfall, kein organischer Schaden – es war eine temporäre Sauerstoffunterversorgung meines Gehirns“, sagt Fahlbusch. Von einem „Hippoxischen Hirnschaden“ sprachen die Ärzte. Der kräftig gebaute Mann mit dem Vollbart sitzt daheim im Sessel, unterm Christbaum steht eine Krippe, auf dem Tisch Weihnachtsgebäck. „Anfang des Jahres sah es so aus, als wenn ich weg wäre“, sagt er nachdenklich. „Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst.“

Reinhold Fahlbusch war in der Stadt als Macher bekannt. Der Maurersohn, aufgewachsen in Linden, hatte als Bankmanager Karriere gemacht. Später etablierte er sich durch ehrenamtliches Engagement als soziale Instanz in Hannover. Er hob das Sozialkaufhaus Fairkauf mit aus der Taufe und gründete die Initiative „Stimme der Ungehörten“, die sich für Obdachlose einsetzt. Ein eloquenter Typ, der durchaus robust auftreten konnte, wenn es um die Rechte von Schwachen ging.

Mit schleppender und etwas verwaschener Stimme, aber in altvertrauter Lautstärke erzählt er nun, wie er damals in die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) und anschließend in eine Spezialklinik in Hamburg kam, wie er wochenlang im künstlichen Koma lag. Als er während der Reha in Depressionen zu versinken drohte, nahm ein befreundetes Arztehepaar ihn und seine Frau in der eigenen Wohnung auf, um ihn wieder auf die Beine zu bringen.

Mühsam musste er wieder lernen, sich selbstständig anzuziehen und zu gehen, Handy und Computer zu bedienen und zu schreiben. „Am Anfang habe ich keinen Buchstaben mehr hinbekommen“, sagt er. Vor allem aber nahm er den Kampf um seine verlorenen Erinnerungen auf.

„Wer ich bin, wusste er sofort“, sagt seine Frau Margret Bruns. Seine Enkelkinder jedoch hielt er zeitweise für seine Söhne. Mit Fotoalben ging seine Frau mit ihm die Familienmitglieder durch, beschriftete Bilder mit Namen auf der Rückseite und half ihm so, nach und nach alte Verknüpfungen wiederherzustellen. Eine Art Memoryspiel zu seiner eigenen Vergangenheit. Kindheitserlebnisse hatte er bald wieder präsent. „Doch je näher die Erinnerungen an der Gegenwart liegen, desto diffiziler wird es, haben uns die Ärzte erklärt“, berichtet Margret Bruns.

Stück für Stück erobert sich Reinhold Fahlbusch seither seine Erinnerungen zurück. „Manchmal bietet mir das Gehirn einen Fetzen an“, sagt er. „Ich bemühe mich dann, zu diesem auch das Drumherum wiederzufinden.“

Mal erkennt er einen Bekannten im Café, weil er dessen Spazierstock noch vor Augen hatte. Mal schickt ihm eine Cousine einen Zeitungsartikel über das Fössebad, in dem er in jungen Jahren oft war. „Und dann purzeln die Erinnerungen rein“, sagt er. Als im Fernsehen eine Reisereportage über Kanada lief, erkannte er spontan einen touristischen Hotspot wieder. „Ich wusste, dass ich davon selbst einmal ein Foto gemacht hatte“, sagt Fahlbusch. In einem Album fand er Bilder der Kanadareise. „Dadurch kamen zusätzliche Erinnerungen zurück.“

Er sei immer ein visueller Mensch gewesen, sagt er. „Ich nehme Menschen durch Gesichter und Erlebnisse durch Fotos wahr.“ Als er zehn Jahre alt war, begann er selbst zu fotografieren. „Die vielen Bilder, die ich über die Jahrzehnte gemacht habe, sind ein riesiger Schatz für meine Erinnerungen“, erklärt er. „Ich muss ihn nur heben – auch, wenn es etwas länger dauert.“

Wenn er wieder einen Erinnerungsfetzen dem Vergessen entreißen konnte, verifiziert er die wiedergewonnenen Versatzstücke anhand von alten Unterlagen. So setzt er die Puzzleteile seines Lebens zusammen, die in Unordnung geraten sind – ohne zu wissen, wie viele Teile es überhaupt gibt oder wann und wo er sie finden kann. „Wahrscheinlich werde ich nie erfahren, wie viele meiner Erinnerungen verschwunden sind“, sagt er, „aber immer mehr von ihnen kommen in kleinen Portionen zurück.“

Oft heißt es, dass Menschen die Summe ihrer Erinnerungen seien; dass unsere Identität sich aus einem Mosaik von Erlebnissen und Begegnungen zusammensetzt, die uns ausmachen. Bei Reinhold Fahlbusch aber hat der Gedächtnisverlust seinen Charakter nicht ausgelöscht, sein Wesen ist das alte geblieben. „Ich wusste immer, wer ich war und was ich wollte – das ist nicht verlorengegangen“, sagt er.

Zu Fahlbuschs herausragendsten Eigenschaften zählte immer sein kommunikatives Talent. Er hat auch jetzt keine Scheu, auf Menschen zuzugehen und sie zu fragen, ob sie nicht alte Bekannte seien. „Ich bin schon immer neugierig gewesen“, sagt er. „Ich frage nach, weil ich ein Bild vollständig haben will.“ So erkundigt er sich bei Verwandten nach Erlebnissen aus der Vergangenheit. Und er ruft Menschen aus dem Adressverzeichnis seines Handys an, auch wenn er mit deren Namen nur noch wenig in Verbindung bringt, um sich mit ihnen zu verabreden. Manchmal setzt sich so eine weitere Kaskade der Erinnerung in Gang.

„Ich vermisse nichts, ich hadere nicht – ich bin zufrieden“, sagt Fahlbusch. „Nur, dass ich so verzögert spreche, das stört mich.“ Lange war unklar, welche Einschränkungen bleiben würden. Inzwischen lebt er mit seiner Frau wieder relativ selbstständig in der eigenen Wohnung. Das Autofahren hat er aufgegeben, doch er bekommt Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie – und im Frühjahr will er das Fahrradfahren wieder lernen.

Seine Ehrenämter hat er abgegeben. „Ich habe meine Projekte in gute Hände gelegt“, sagt er selbst. Es hört sich nicht so an, als mache ihm das Loslassen sehr zu schaffen. „Er war immer ein positiver Mensch, das Glas war für ihn immer halb voll“, sagt seine Frau über ihren Mann. Auch diesem Wesenszug hat der Erinnerungsverlust nichts anhaben können.

„Für mich war 2022 ein gutes Jahr“, resümiert Fahlbusch. „Es begann mit einer Katastrophe und wendete sich immer mehr zum Besseren.“ In einem bewegenden Weihnachtsrundbrief an Freunde und Bekannte hat er sich jüngst bei seiner Frau für ihren aufopferungsvollen Einsatz bedankt – und bei den vielen Menschen, die ihn auf seinem schwierigen Weg durch Besuche, E-Mails oder Telefonate unterstützt haben: „Das baut mich auf und führt zur weiteren Aufdeckung von Erinnerungen“, schreibt er in dem Brief.

„Ich habe 2022 erfahren, dass es nicht nur Dinge gibt, die man zählen, messen und wiegen kann“, sagt Reinhold Fahlbusch. Darum gehe er voller Dankbarkeit und Zuversicht in das neue Jahr. Sein Geburtsdatum habe er immer im Kopf gehabt, aber sein Alter habe er nach der Erkrankung mit 57 Jahren angegeben. „Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, wie alt ich wirklich bin“, sagt der 76-Jährige. „Jetzt meine ich: Zehn Jahre dürften es ruhig noch sein.“