Gemeinschaft der Aussortierten

Thomas Deutschmanns Fotografien machen Hannovers Geschichte lebendig.

Ein Schnappschuss aus der Zeit, eine Momentaufnahme der Menschlichkeit: So lässt sich das neue Projekt des Fotografen Thomas Deutschmann beschreiben. Was einst als bloßer Arbeitsauftrag begann, führt heute zu einer tiefen und emotionalen Zeitreise in die Gesellschaft der 70er-Jahre, die uns noch heute bewegt. 1971 führte ein unscheinbarer Auftrag Deutschmann ins Obdachlosenlager am Vinnhorster Weg. Was er damals mit den Augen eines jungen Fotografen festhielt, wird nun in der Galerie für Fotografie (GAF) in der Eisfabrik gezeigt – und lässt uns Geschichte ganz neu erleben.

Diese Ausstellung enthüllt Porträts der „Aussortierten“: Sinti und Roma, türkische Arbeiter, kinderreiche Familien wie die Familie Müller – Menschen, die damals im Verborgenen lebten, abseits der bürgerlichen Gesellschaft und doch voller Stolz und Lebensfreude. 14 Tage verbrachte Deutschmann mit der Kamera auf dem Gelände. Dabei entstanden Aufnahmen, die nicht nur dokumentieren, sondern lebendig sind und das Menschsein in seiner pursten Form zeigen. Kein Filter, kein Fake – nur die Realität: Erwachsene mit Zigarette im Mundwinkel, Kinder, die mit Müllcontainern spielen, und Nachbarn, die 96-Fahnen schwenken. Es sind Bilder, die ein Gemeinschaftsgefühl zeigen, das in der kargen Umgebung fast überirdisch wirkt.

Ein Blick in die Seele der Sozialfotografie

Thomas Deutschmann in der GAF vor seinen Bildern

Diese Ausstellung ist eine Hommage an die klassische Sozialfotografie, inspiriert von Meistern wie Diane Arbus und Walker Evans. Deutschmann hat nicht einfach nur festgehalten, er hat zugehört, Vertrauen aufgebaut und einen Dialog geschaffen. „Es herrschte ein Zusammenhalt im Lager“, erinnert sich Deutschmann – eine Gemeinschaft der Aussortierten, die ihr eigenes System der Solidarität pflegte. Die intensive Nähe, mit der die Fotografierten auf Deutschmann reagieren, lässt die Bilder noch heute kraftvoll wirken.

53 Jahre später: Die Reise geht weiter

Doch Deutschmann bleibt nicht in der Vergangenheit stecken. In Zusammenarbeit mit dem Journalisten Bert Strebe hat er einige der damals Porträtierten gesucht – und gefunden. Für das Projekt „Von Zeit zu Zeit“ hat er sie erneut fotografiert, diesmal in Farbe und mit all dem Leben, das sie inzwischen geprägt hat. Die Geschichten sind inspirierend: Karsten, einst Hobbyfußballer, ist heute Malermeister. Claudia, die ohne Schulabschluss blieb, arbeitet heute in Bäckereien und ist stolz auf ihre Familie. Thimmy, der früher auf die Sonderschule ging, hat heute eine eigene Firma und engagiert sich für Jugendliche und Alkoholabhängige. Die Geschichten dieser Menschen gehen unter die Haut und zeigen, dass sich Geschichte nicht nur erzählt, sondern lebt.

Die Geschichte von Karsten König
Er war knapp zehn, als die Familie ins Lager kam. Der Vater war „dem Alkohol verfallen“, die Mutter habe „mitgezogen“.
Probleme bei der Arbeit, Mietschulden. Neue Adresse: Vinnhorster Weg.
Karsten König, 1963 geboren, fand das Lager damals aber vor allem spannend: „Jede Menge Kinder.“ Und die Situation in deren Familien war ihm ja auch vertraut: „Alle waren am Trinken.“
Er lebte damals zusammen mit zwei Schwestern und einem Bruder bei seinen Eltern. Dann sollte er aber weg von zu Hause: Karsten König und sein Bruder wurden vom Jugendamt, das die Eltern für überfordert hielt, aus dem Lager geholt. Die Brüder kamen in ein Heim. „Das hat schon ein bisschen wehgetan.“
Mit 15 verließ er die Schule, fing an zu jobben. Als er gerade 18 geworden war, starb seine Mutter. Mit knapp 20 kam die Wende in Karsten Königs Leben. Er ging zur Bundeswehr. „Das war sehr gut.“
Pünktlichkeit. Disziplin. Kameradschaft. „Das hat mich geprägt“, sagt er. Heute ist er selbstständiger Malermeister.
„Ich musste mich immer durchsetzen“, sagt er. „Ich bin ein Einzelkämpfer. Ich bin meinen eigenen Weg gegangen. Das mache ich heute noch“

Noch bis zum 24. November kann diese außergewöhnliche Ausstellung in der GAF besucht werden. Wer die Bilder betrachtet, tritt in eine Welt ein, die viel mehr als bloße Erinnerungen bietet – es ist ein lebendiges Stück Hannover, voller Emotionen, Stolz und einer Gemeinschaft, die bis heute nachwirkt.

Hier findet Ihr die Website der GAF und hier mehr Infos zum Projekt Von Zeit zu Zeit

Das Urheberrecht aller hier veröffentlichten Fotografien liegt bei Thomas Deutschmann. 
Diese dürfen ohne Zustimmung weder privat noch gewerblich genutzt, vervielfältigt, verändert oder an dritte weitergegeben werden.