Der Obdachlose

„Ich kenne dich“, sagte der Mann.

Eine Welle von Gerüchen stieg mir in die Nase. Urin, Schweiß, Alkohol, der strenge Geruch eines lange nicht gewaschenen Körpers.

Ich ging weiter. Obdachlose ignorierte ich. Ständig begegnete man ihnen, am Wegesrand, vor Geschäften, in Unterführungen. Ich konnte ihren Anblick schwer ertragen. Eine Mischung aus Ekel und Mitleid. Das Gefühl, froh zu sein, dass einem selber dieses Schicksal erspart blieb. Allein die Vorstellung, über Wochen oder Monate dieselbe Hose und Unterhose zu tragen, ohne sie waschen zu können, jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Ich ging unbeirrt weiter. Zu einem Gespräch mit einem Obdachlosen hatte ich nun wirklich keine Lust. Zumal dieser offensichtlich einiges an Alkohol intus hatte.

Auf dem Rückweg nach dem Einkauf musste ich an derselben Stelle vorbei. Ich wollte schnell nach Hause, mir etwas zu essen machen und ins Bett.

„Manche Dinge wiederholen sich“, sagte die Stimme des Mannes.

Sie klang nicht vorwurfsvoll, sondern leise und niedergeschlagen.

„Einmal abgewandt, immer abgewandt.“

Das klang jetzt doch wie ein Vorwurf. Aber wie ein Vorwurf, der sich schon beim Aussprechen drehte und wieder in den Mund zurückwollte, weil er keine Kraft hatte. Der sich nicht hinaustraute, und dann, hinaus geschubst, versuchte, unauffällig zu sein, schnell um die nächste Ecke zu verschwinden. Von einer Person, die nicht genug Selbstvertrauen hatte, überhaupt einen Vorwurf zu machen.

Die Worte erreichten mich. Dass ich mich abwandte, konnte ich ja schwer abstreiten. Ich stapfte trotzdem zügig voran, nach einem langen Arbeitstag mein Abendessen und ein bisschen Ruhe im Sinn.

„Veronika.“

Jetzt blieb ich doch stehen. Drehte mich um und erblickte einen Mann meines Alters, vielleicht noch ein paar Jahre jünger, das war schwer zu schätzen bei der Gestalt, die sich meinen Augen zeigte. Er trug eine völlig verdreckte Jacke, die für den kühlen Herbsttag viel zu dünn war und außerdem ein riesiges Loch am linken Ärmel aufwies, durch das die Haut zu sehen war. Offensichtlich fehlte ihm unter der Jacke sogar ein Pullover. Seine Schuhe waren von undefinierbarem Graubraun und der linke Schuh klaffte vorne zu einem Maul auf, aus dem ein strumpfloser Zeh herauslugte. Seine Haare standen auf der einen Seite wirr ab, auf der anderen Seite klebten sie fettig auf seinem Kopf. Das Gesicht war hager und von einigen Narben gezeichnet. Einzig seine Hose, eine dunkle Bluejeans, war sauber und unbeschädigt.

„Ich habe sie erst seit gestern“, sagte der Obdachlose, der offensichtlich meinen abschätzenden Blick bemerkt hatte, „ich habe einen Mann, der eine Tüte in den Altkleidercontainer werfen wollte, gefragt, ob dort eine Hose drin sei. Er gab mir das ganze Paket, aber außer dieser Hose waren es nur Frauensachen.“

Er schwieg einen Moment, wie erschöpft von dem ungewohnten Redefluss.

Währenddessen ging mein Gehirn auf die Suche. Konnte es sein, dass er meinen Namen erraten hatte? Hatte ich ihn irgendwo sichtbar stehen, vielleicht auf einer Tasche, oder hatte ich vor dem Laden versehentlich ein Rezept fallen gelassen?

„Er hat die Tüte neben mich gestellt. Er hat nicht mal ja oder nein gesagt, sondern sie einfach neben mir fallen lassen und ist ganz schnell verschwunden. Aber jetzt habe ich zumindest eine neue Hose.“

Ich rang mit mir. Sollte ich nicht einfach meinen Weg fortsetzen und diesen kurzen Zwischenstopp vergessen? Aber ich wollte doch gern wissen, woher dieser Mann meinen Namen wusste.

„Woher wissen Sie, wie ich heiße? „

Ich achtete darauf, einen Sicherheitsabstand von mindestens zwei Metern einzuhalten. Als ob der Mann mich plötzlich anspringen würde.

Er sah traurig aus.

„Natürlich kannst du mich nicht erkennen. Du siehst ja noch fast aus wie früher, das kann man wohl von mir nicht sagen.“

Sein Mund verzog sich zu einem bitteren Grinsen, das eine große Lücke in den unteren Frontzähnen offenbarte.

„Wie, früher… ?“, fragte ich verwirrt.

„Wir haben mal zusammen gewohnt“.

„So ein Quatsch.“

Ich drehte mich um und wollte flüchten. Doch etwas zwang mich, mich dem Mann, der auf dem Boden auf einer Plastiktüte neben dem Kinderhubschrauber vor dem Edeka saß, wieder zuzuwenden, ein Gedankenfetzen vielleicht oder eine wirre Ahnung. Ich hatte einige WGs hinter mir, zu meinen Studienzeiten.

„Ich bin Thomas.“

Ich schluckte. „Thomas“, wisperte ich. Mein Gehirn produzierte ein Flashback. Plötzlich sah ich den jungen Thomas vor mir, den, mit dem ich anderthalb Jahre zusammen gewohnt hatte. Einen schüchternen, in sich gekehrten Studenten der Informatik. Er hatte das zum Norden ausgerichtete Zimmer bewohnt und meist tagsüber die Jalousien halb herunter gelassen, obwohl in das Zimmer sowieso wenig Licht fiel.

Wir hatten gelegentlich abends zusammen gekocht, und einige Male hatte er mir die Miete zu spät überwiesen. Insgesamt aber ein unauffälliger, angenehmer Mitbewohner.

„Du erinnerst dich“, sagte er, während er unverwandt zu mir hoch sah.

Ich nickte. Die Distanz, die ich zu dem auf der Straße aufgebaut hatte, schmolz innerhalb von Sekunden.

„Du hast anderthalb Jahre bei mir gewohnt. Und plötzlich warst du verschwunden.“

Er sagte nichts. Starrte großäugig zu mir hoch. Zumindest ein Auge groß, das andere wegen der Narbe darüber nur halb geöffnet.

„Ich muss jetzt leider los.“

Ich schielte hinter mich. Der Edeka lag ziemlich nah an meiner Arbeitsstelle. Oft ging der eine oder andere Kollege hier nach der Arbeit noch kurz etwas einkaufen.

Thomas nickte.

„Ich habe alle Zeit der Welt. Ich werde auch morgen wieder hier sitzen. Der Anton, der den Sitzplatz hier vorher hatte, ist letzte Woche gestorben.“

Ich schaffe es nicht, mich umzudrehen und zu gehen.

„Hier ist es wärmer als drüben in der Schusterstraße. Da zieht es so.“

Er sprach schnell und viel, das hatte er früher schon getan, wenn er zu viel getrunken hatte. Nüchtern war er immer einsilbig gewesen, und wir hatten uns nur selten über persönliche Dinge unterhalten.

„Er hatte eine Lungenentzündung.“

Die wirst du auch bald haben, dachte ich, seine durchlöcherte Jacke und Schuhe im Blick. Ich schluckte.

„Warum warst du damals verschwunden?“

„Ich war im Knast. Drei Monate lang. So lange konntest du wohl offensichtlich nicht warten.“

„Woher sollte ich das wissen? Du warst einfach weg, keine Nachricht, keine Information, kein Geld. Ich musste das Zimmer auch irgendwie finanzieren.“

Ein Fetzen der alten Wut kam an die Oberfläche, der Frust, dass er mich damals so hatte hängen lassen. Nach sechs Wochen hatte ich das Zimmer neu inseriert. Seine Möbel hatte ich in den Keller geräumt. Seine ganzen Klamotten, Bücher und persönlichen Sachen auf den Dachboden. Jahre später, als ich mit meinem späteren Mann zusammen zog, hatte ich alles auf den Sperrmüll gestellt und seine Kleidung in die Altkleiderkiste geworfen. Nur einen ganz kleinen Karton mit persönlichen Dingen, Postkarten, ein bisschen wertloser Schmuck, ein paar winzige Andenken, hatte ich aufbewahrt. Reste eines verschollenen Lebens.

„Mobiltelefone gab es damals noch nicht“, beantwortete er meinen unausgesprochenen Gedanken.

„Warum bist du nicht noch mal vorbeigekommen, als du wieder draußen warst?“

Mir wurde langsam kalt, aber ich konnte nicht gehen.

„Das bin ich. Zweimal habe ich geklingelt, da hast du nicht aufgemacht. Beim dritten Mal habe ich hinter meinem Zimmerfenster einen Mann gesehen, vermutlich deinen neuen Mitbewohner. Dann bin ich wieder gegangen.“

„Warum…“

„Du zitterst“, unterbrach er mich unvermittelt. „Irgendwann gewöhnt man sich an die Kälte.“

Es sei denn, man bekommt eine Lungenentzündung und stirbt wie dein Kollege, dachte ich.

„Und du? Merkst du die Kälte da nicht mehr?“

Er zuckte die Achseln: „Klar. Aber es hilft ja nichts. Und hiermit“, er zog einen Tetrapack Wein hinter seinem Rücken hervor, „kann man alles ertränken. Sogar die Kälte.“

Ich presste meine klappernden Zähne zusammen. Das passierte mir immer, wenn ich fror, müde oder erschöpft war, und lange nichts gegessen hatte. Mein Drang, nach Hause zu kommen, wurde überlagert durch die Wirkung dieses heruntergekommenen Mannes. Dieses Fensters zu meiner Vergangenheit.

Mein Mann war vor einem halben Jahr gestorben. Zu Hause erwarteten mich doch nur leere Zimmer. Und auch ich würde die angestrebte Ruhe nicht bekommen, würde meine Leere in Wein ertränken wie jeden Abend. Würde etwas essen und mich stumpf vor den Fernseher legen, bis ich eingeschlafen war.

„Warum musstest du denn in den Knast?“

„Ich hatte ein bisschen zu viel Hasch dabei. Und ich war ja noch auf Bewährung.“

Plötzlich wurde es mir zuviel. Ich kramte in meinem Portemonnaie nach einer Visitenkarte und reichte sie ihm. Einen Augenblick berührten sich unsere Finger. Seine waren überraschend warm.

„Ich habe noch ganz viel Kleidung meines verstorbenen Mannes in den Schränken. Komm vorbei und such dir etwas aus. Ich bin abends immer zu Hause.“

Auf seinem Gesicht spiegelten sich Überraschung, Freude, Unsicherheit.

„Und vergiss nicht zu klingeln.“

Über die Autorin:

Nathalie Cassar ist 54 Jahre alt und arbeitet im IT-Bereich in einem großen Hannoverschen Unternehmen. Sie ist in Schreibgruppen aktiv und schreibt Kurzgeschichten, aber auch längere Texte im Romanformat. Das aktuelle Thema, welches Auslöser für die vorliegende Kurzgeschichte war, lautete „Schuld“. Persönlicher Hintergrund der Autorin: sie hat in ihrer Studienzeit selbst erlebt, wie ein WG-Mitbewohner spurlos verschwand.