Von wegen selbst schuld

Heute stand der folgende Artikel in der Süddeutschen Zeitung: Fast 40 000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße, die meisten von ihnen wegen Schicksalsschlägen. Die Kommunen müssten ihnen ein Bett verschaffen. Doch lieber spendieren sie ein Zugticket – in die nächste Stadt.

Selbst schuld, wer säuft! Selbst schuld, wer auf der Straße schläft! Niemand muss in Deutschland doch auf der Straße schlafen, niemand muss den Bürgerinnen und Bürgern mit seinem elendigen Anblick auf den Wecker gehen. Oder gar mit einem improvisierten Nachtlager, einem verschlissenen Schlafsack im Automatenraum einer Bankfiliale etwa, und dabei seinen Dreck dorthinein tragen, wo man es gern sauber hat. Und wer es dennoch tut, und wer dann vertrieben oder wegen Hausfriedensbruchs angezeigt wird: Siehe oben!

So zu denken, ist verführerisch, wenn jetzt im Winter die vielen obdachlosen Menschen, die zur Bevölkerung in Deutschland gehören, wieder sichtbarer werden. Es ist verführerisch, weil man sich mit solchen Sätzen moralisch selbst beruhigt, während man Bettlern nichts gibt, und weil man es sich mit solchen Gedanken leichter macht, Obdachlose von wärmenden Zufluchtsorten zu verbannen, wo sie die Shopping-Harmonie beeinträchtigen. Aber es ist falsch – eine wohlige Illusion zulasten Dritter.

Von wegen selbst schuld. Es gibt in Deutschland nicht genügend passende Übernachtungsplätze für obdachlose Menschen. Das ist eine empirische Tatsache, die von Hilfsorganisationen landauf, landab beklagt wird, vorneweg von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Mindestens 37 400 Menschen leben komplett auf der Straße, so lautet die eigene, vorsichtige Schätzung der Bundesregierung in ihrem Wohnungslosenbericht, der erst einen Monat alt ist. „Insgesamt fast die Hälfte“ von ihnen, so lautet ein Schlüsselsatz in dem Bericht, hätten ihre Wohnung „aufgrund von Mietschulden verloren“.

Zwar gibt es in Hannover keine Zugtickets in andere Städte, aber noch immer sind die Verhältnisse in den Notschlafstellen alles andere als ideal.

Der „Alte Flughafen“ beispielsweise – ein ehemaliger Möbelmarkt mit einer einzigen großen Verkaufsebene, unterteilt mit Hilfe von mit Folie verkleideten Bauzäunen in „6-Bett-Appartments“, Toilette und Waschgelegenheiten in Container vor dem Gebäude – Menschenwürde sieht irgendwie anders aus…