Kein Mensch muss 2030 mehr auf der Straße leben

Obdachlosigkeit soll bis zum Jahr 2030 überwunden werden.

Die Bundesregierung hat dazu Ende April einen „Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit“ (NAP) aufgestellt, der entsprechende Auftakt zur Umsetzung erfolgt Anfang Juni. Die Stadt Hannover erarbeitet seit April in 21 Arbeitsgruppen unter dem Stichwort „Obdach 2030“ ein Konzept, wie das Ziel erreicht werden kann, erste Ergebnisse sollen nach den Sommerferien vorgestellt werden.

Nähere Infos dazu findet Ihr hier und hier

STiDU ist bei beiden Prozessen beteiligt und arbeitet dort mit.

Zum NAP hatte STiDU die folgende Stellungnahme abgegeben:

Download der Stellungsnahme als PDF

Stellungnahme zum Referentenentwurf „Gemeinsam für ein Zuhause – Nationaler Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit 2024“

1. STiDU – Stimme Der UngeHÖRTen e.V. ist ein im Jahr 2020 gegründeter Verein, der – vorrangig in der Region Hannover – für die Rechte und Interessen von wohnungs- und obdachlosen Menschen eintritt. Dazu betreiben wir eine Ombudsstelle für die Entgegennahme von Beschwerden, beraten Menschen in besonderen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, zeigen Schwachstellen in der Versorgung auf und machen Vorschläge zur Verbesserung des Hilfesystems, unterstützen die Träger des Hilfesystems und versuchen zudem, der Öffentlichkeit ein realistischeres Bild von obdachlosen Menschen zu vermitteln. Um diese Ziele zu erreichen, ist der Verein eng mit der Kommunalpolitik in Stadt und Region, den öffentlichen Verwaltungen und den Trägern des Hilfesystems vernetzt. Daneben bestehen Kooperationen mit der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, der Wohnungslosenstiftung, der BAG – W und anderen bundesweit tätigen Akteuren.

Mehr Infos zu unserer Arbeit findet man auf unserer Website „www.stidu.net“.
Vor diesem Hintergrund sehen wir uns als befugt an, zu dem og. Referentenentwurf eine Stellungnahme abzugeben.

2. STiDU begrüßt explizit, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in der Präambel zu den Zielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen sowie dem Grundsatz 19 der Europäischen Säule sozialer Rechte bekennt und nunmehr einen Nationalen Aktionsplan aufstellt, um Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 zu überwinden. STiDU begrüßt dabei auch, dass unter der Überschrift „Gemeinsame Werte und Verantwortung“ klargestellt wird, dass die Würde des Menschen oberste Maxime ist und dass es Aufgabe aller staatlichen Akteure ist, wohnungslosen Menschen zur Verwirklichung ihrer Grund- und Menschenrechte zu verhelfen. Das ergibt sich zwar unmittelbar und unmissverständlich aus unserem Grundgesetz, aber es ist sicherlich richtig und wichtig, das nochmals zu betonen! Denn leider noch immer findet Stigmatisierung und Diskriminierung auch auf öffentlichen Ämtern statt, wie uns Betroffene berichten. Wir sind allerdings realistisch und sehen, dass die Aufgabe „Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit“ besondere Anstrengungen – nicht nur in finanzieller Hinsicht – verlangt und dass deshalb das Ziel vielleicht in der Kürze der Zeit – bis zum Jahr 2030 sind es „nur noch“ sechs Jahre – nicht vollständig erreicht werden können. Bei allem Leid, das das Leben auf der Straße mit sich bringt, STiDU wäre auch zufrieden, wenn Wohnungs- und Obdachlosigkeit erst im Jahr 203x in Gänze überwunden wird und wenn bis dahin alle Bemühungen dahin gehen, die Lebensbedingungen für wohnungslose Menschen menschenwürdig zu gestalten. Das soll nun aber nicht kein Freibrief sein, STiDU erwartet schon, dass ALLE Beteiligten ALLE ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen, um das Ziel ernsthaft anzugehen und zu erreichen.

3. Im Referentenentwurf wird der Prozess zur Erstellung des Aktionsplans beschrieben (ab S. 19). Es waren danach zunächst von Seiten der öffentlichen Hand sehr viele Vertreter*Innen aus den einzelnen Bundesministerien, der Länder sowie den Spitzenverbänden der Kommunen beteiligt; daneben brachten sich auch weitere Akteure von BAG – W bis Deutscher Mieterbund in die Erarbeitung ein. In welchem Umfang dabei auch wohnungslose Menschen beteiligt wurden, ergibt sich daraus aber nicht wirklich. Stefan Schneider von der Wohnungslosenstiftung hatte deshalb in seiner ersten Stellungnahme die nicht hinreichende Beteiligung bzw. Partizipation betroffener Menschen kritisiert – https:/www.wohnungslosenstiftung.org/neuigkeiten/2024-03-11-nap-wohnungslosigkeit-entwurf.html

Es mag sein, dass Partizipation bisher nicht hinreichend stattfand. STiDU will das nicht vertiefen, weil wir nach vorne sehen wollen. Was wir aber an dieser Stelle explizit einfordern wollen, ist eine stärkere Transparenz im sich anschließenden Umsetzungsprozess. Zwar ist vorgesehen, einmal jährlich einen Kongress zu veranstalten, auf dem Ergebnisse der Diskussion in den unterschiedlichen Facharbeitsgruppen vorgestellt werden – aber was spricht dagegen, die Tätigkeit der einzelnen Facharbeitsgruppen laufend darzustellen, etwa Protokolle zu veröffentlichen und so den nicht daran beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und der interessierten Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, den Diskussionsprozess konstruktiv kritisch zu begleiten? Dadurch kann vielleicht auch der Gefahr begegnet werden, dass im Umsetzungsprozess einzelne Stimmen aus den Lobbyverbänden von der Immobilienwirtschaft bis hin zu den Träger der Wohnungslosenhilfe eine falsche Gewichtung erhalten.

4. Unter der Überschrift „Rahmenbedingungen und Herausforderungen“ wird aus unserer Sicht die komplexe Ausgangslage anschaulich dargestellt. Es gibt halt nicht DEN wohnungslosen Menschen, sondern es sind zunächst unterschiedliche Gründe, die zum Verlust der Wohnung führen, Es ist dann eine unterschiedliche Resilienz des jeweiligen betroffenen Menschen, die sich auf das Leben ohne Dach über dem Kopf auswirkt und die zu gesundheitlichen Problemen führt. Es ist zudem von Zufälligkeiten abhängig, ob und wie der Betroffene über das Hilfesystem „resozialisiert/rehabilitiert“ werden kann. Es gibt Kinder und junge Menschen, es gibt ältere Menschen, es gibt Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Nationalität usw. Es kann deshalb unseres Erachtens nicht den einen Lösungsweg geben, sondern es müssen stets die Besonderheiten des Einzelfalls Berücksichtigung finden. Auch wenn insbesondere die Anzahl verdeckt wohnungs- bzw. obdachloser Menschen nur geschätzt werden kann, ist doch gesichert, dass von Wohnungslosigkeit rund eine halbe Millionen Menschen betroffen sind – Tendenz eher steigend. Diese Dimension zeigt, dass es sich dabei wirklich um ein gravierendes Problem handelt, das ernsthaft angegangen werden muss.

5. Zu den vorgeschlagenen „Inhaltlichen Leitlinien“: Wir tragen in vollem Umfang den Ansatz mit, dass es zur Aufgabe aller Beteiligten erklärt wird, jeder wohnungslosen und jeder von Wohnungslosigkeit bedrohten Person ein passendes Wohnungsangebot zu machen. „Passendes Angebot“ – wir verstehen diesen Begriff so, dass damit – ohne es explizit zu benennen – der Ansatz „housing first“ präferiert wird, dass aber eine Wohnung, ein Dach über dem Kopf allein nicht aus- reicht, dass es flankierender sozialpädagogischer Maßnahmen bedarf, damit die Person in die Lage versetzt wird, die Wohnung auch nachhaltig zu halten. Und es wird nach unserer Einschätzung immer auch Konstellationen geben, in denen die Probleme so mannigfaltig und vielschichtig sind, dass eine vorgeschaltete Unterbringung in einer stationären Übergangseinrichtung geboten ist.

6. Wir fragen uns allerdings schon, wie dies Wohnangebot realisiert werden soll. Wir erinnern uns an frühere „Wohnraumgipfel“ mit dem Versprechen „400.000 neue Wohnungen jährlich“ – Ziele, die in der Vergangenheit weit verfehlt wurden. Es besteht auch wenig Hoffnung, dass sich das künftig ändert – die einschlägigen Probleme in der Bauwirtschaft vom Anstieg der Baukosten, der Verknappung des Materials, des fehlenden Personals usw. sind allgemein bekannt. Es würde den Rahmen dieser Stellungnahme sprengen, sie allesamt zu benennen und gar auf Probleme wie Dauer der Baugenehmigungsverfahren, möglicherweise überzogene Bauvorschriften usw. einzugehen.

In jedem Fall werden aber nicht nur mehr Wohnungen benötigt, entscheidend ist, dass sie auch für Niedriglöhner und Empfänger*Innen von Transferleistungen bezahlbar sind, dass die Miete innerhalb der Mietobergrenzen bleibt. Dass dieses Ziel erreicht wird, ist in einer sozialen Marktwirtschaft vorrangig Aufgabe der Privatwirtschaft; wir sehen die öffentliche Hand aber in der Verpflichtung, den Bau von Wohnungen zu fördern. Wir verstehen auch, dass der Bund allein diese Aufgabe nicht bewältigen kann, dass es auch Aufgabe der Länder und der Kommunen ist, etwas für den sozialen Wohnungsbau zu tun. Wir haben allerdings Zweifel, ob die insofern bereitgestellten Mittel – für die Jahre 2022 bis 2027 Bund = 18, 15 Mrd. €, Länder = ca. 27 Mrd. € – ausreichen. Vor dem Hintergrund, dass Bauen teurer wird und dass Wohnen zunehmend zur zentralen sozialen Frage wird, sind wir nicht wirklich überzeugt, dass das reichen wird. Und noch ein Gedanke in diesem Zusammenhang: Es wird nicht funktionieren, wenn die Betroffenen in ggf. neu gebaute Ghettos zusammen einquartiert werden, das schafft eher neue Probleme. Integration wird eher in durchmischten Quartieren gelingen, in denen eine bestehende Nachbarschaft helfen und einstehen kann.

7. STiDU unterstützt auch den Ansatz, Präventionsmaßnahmen auszubauen, um den Eintritt von Wohnungslosigkeit überhaupt erst zu vermeiden. Ist Wohnungslosigkeit erst eingetreten, wird es teuer, sie wieder zu beseitigen; zudem bleibt der betroffene Person die Erfahrung des Lebens auf der Straße mit all seinen Entbehrungen erspart. Das entsprechend bestehende Hilfe- und Unterstützungssystem weist dabei nach unserer Einschätzung noch Lücken auf, die es zu schließen gilt. Aus unserer Erfahrung ist der Datenschutz eine Hürde: Darf der Vermieter von sich aus ohne Zustimmung des Betroffenen mit der örtlich zuständigen Fachstelle Kontakt aufnehmen? Ist der SGB II-, der SGB XII-Träger berechtigt, entsprechende Informationen weiterzugeben? Wir sind der Ansicht, dass allein eine zielgruppenorientierte Öffentlichkeitsarbeit auch mit leicht verständlichen und mehrsprachigen Informationsmaterialien viele Betroffene nicht wirklich erreicht. Wir plädieren deshalb dafür, hier Ausnahmen von den strengen Regelungen des Datenschutzes zuzulassen.

8. Dass im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Empfehlungen zu Standards der Unterbringung erarbeitet werden sollen, ist ein Ansatz in der richtigen Richtung. Denn obwohl die Verpflichtung zur ordnungsrechtlichen Unterbringung zwar mittlerweile dem Grunde nach bundesweit anerkannt ist (Karl-Heinz Ruder sei Dank dafür), entsprechen die Unterkünfte doch in einzelnen Kommunen nur bedingt den Anforderungen an die Menschenwürde. Ein resilienter wohnungsloser Mensch kann vielleicht die Unterbringung in einer durch Bauzäune in Mehrbett-Bereiche unterteilten Lagerhalle mit Toilette und Waschmöglichkeit im Außenbereich halbwegs ertragen, aber spätestens wenn er gesundheitlich angeschlagen ist, wenn der Mensch behindert ist, wird es schwierig. Eine barrierefreie Unterbringung in Einzelzimmern, die sich nicht nur auf die Nacht beschränkt, wird dann unerlässlich. Darauf hinzuweisen ist aber, dass es entsprechende Leitlinien bereits gibt – aufgestellt vor knapp zwei Jah-
ren vom Deutschen Institut für Menschenrechte https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/notunterkuenfte-fuer-wohnungslose-menschenrechtskonform-gestalten In diesem Dokument wird auch erläutert, dass es nicht ausreicht, Standards nur zu schaffen, sondern dass es zwingend geboten ist, sicherzustellen, dass die Standards auch tatsächlich beachtet werden. Dem schließen wir uns vollumfänglich an.

Und abschließend weisen wir noch darauf hin, dass die ordnungsrechtliche Unterbringung nach unserer Auffassung sich nicht nur auf Angebote für die Nacht beschränkt. Zum Schutz der Menschenwürde gehört es auch, den Betroffenen tagsüber einen Witterungsschutz, einen geschützten Aufenthaltsort zu geben, sie gesundheitlich zu versorgen und ihnen eine digitale Teilhabe zu ermöglichen.
Noch ein Wort zur digitalen Teilhabe: Im Referentenentwurf heißt es dazu, dass „dafür die technischen Vorussetzungen geschaffen und Kompetenzen vermittelt werden“ – wir sind gespannt zu erfahren, was das konkret bedeutet und wie es umgesetzt wird.

9. Wir hatten oben schon angedeutet, dass die ordnungsrechtliche Unterbringung von erkrankten bzw. behinderten Menschen besondere Anforderungen stellt. Es ist ein Dilemma, das damit anfängt, dass die betroffene Person häufig aus der stationären Krankenhausbehandlung „blutig entlassen“ wird, das sich dann fortsetzt, weil für diesen Personenkreis nicht ausreichend Krankenwohnungen oder Plätze in der Kurzzeitpflege zur Verfügung stehen und sie deshalb unter den unzureichenden hygienischen Bedingungen auf der Straße genesen müssen. In diesen Kontext gehört auch, dass wohnungslose Menschen zunehmend älter werden, weil die medizini- sche Versorgung nachhaltiger wird. Oder weil sie substituiert werden und so mit ihre Suchterkrankung länger auf der Straße leben. Für all diese Personen fehlen geeignete Pflegeplätze. Hier müssen dringend mehr Angebote eingerichtet werden – in Zusammenarbeit mit den Trägern der Kranken- und Pflegeversicherung.

10. Selbst verbindliche Standards der ordnungsrechtlichen Unterbringung werden nicht die Wohnungslosigkeit von Unionsbürgern überwinden, solange diese Menschen weiterhin vom Zugang zu den Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII ausgeschlossen sind. Kann ihnen nicht im Rahmen der Regelungen des § 67 SGB XII geholfen werden und werden ihnen nicht wenigstens für eine gewisse Zeit, bis sie wieder Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben, Leistungen zum Lebensunterhalt gewährt, wird sich am grundsätzlichen Elend, in dem sie leben, nichts ändern; es wird sich tendenziell sogar eher verschlechtern, weil das Leben in prekären Verhältnissen Suchtverhalten fördert und überhaupt krank macht. Es ist bedauerlich, dass der Referentenentwurf außer der Beschreibung eben dieses Elends keine Lösungsansätze enthält.

11. Abschließend hält der Referentenentwurf es für erforderlich, verschiedene Plattformen und dashboards zum Wissensaustausch und zur Vernetzung auf nationaler und internationaler Ebene aufzubauen. Auch nach unserer Einschätzung gehen die Länder und Kommunen unterschiedlich mit den Problemen wohnungsloser Menschen um; ein gemeinsamer Austausch findet bisher nur begrenzt statt, so dass in der einen Kommune gemachte gute Erfahrungen nicht auch auf andere Kommunen übertragen werden, gleiches gilt für Fehlentwicklungen. Schauen, wie woanders mit einem Problem umgegangen wird und dann vom Besten lernen, das ist aus unserer Sicht ein vernünftiger Ansatz.